Je mehr Home-Office, umso weniger Arbeitszeiterfassung – und je höher der Bildungsgrad, umso stärker das Gefühl der Entgrenzung von Arbeit und Freizeit: Das sind zwei Ergebnisse aus der Arbeitszeitbefragung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA). Das Pikante: Sie ist im Jahr 2019 durchgeführt worden, also vor der Pandemie. Und sie zeigt deutlich auf, dass es neue Regelungen braucht – jetzt erst recht.
Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) hat kürzlich die Ergebnisse ihrer Arbeitszeitbefragung 2019 veröffentlicht. Darin wird klar: Wer seine Arbeitszeit erfasst, klagt deutlich seltener über die Entgrenzung von Arbeit und hat eine bessere Work-Life-Balance. 2019 hat der Europäische Gerichtshof die EU-Mitgliedsstaaten dazu verpflichtet, Instrumente der Zeiterfassung zu implementieren. Doch eine Pandemie später stellt sich die Frage, ob Beschäftigte dieses Instrument zum Schutz ihrer Arbeitnehmer/innenrechte überhaupt noch wollen.
Im Home-Office werden Zeiten seltener erfasst
Die BAuA hat bei ihrer Befragung ganz genau hingeschaut, um herauszufinden welche Beschäftigten aus welchen Branchen wie ihre Arbeitszeiten erfassen. Insgesamt gaben 48 Prozent der Befragten an, dass ihre Arbeitszeiten betrieblich erfasst werden, 32 Prozent erfassen ihre Arbeitszeiten selbst und bei einem Fünftel gibt es keine Erfassung. Das Bild verändert sich ein wenig, wenn man Menschen im Home-Office genauer unter die Lupe nimmt: Über die Hälfte (52 Prozent) erfassen ihre Zeiten selbst, bei rund einem Drittel (34 Prozent) gibt es keine Zeiterfassung.
Aus den Wirtschaftssegmenten öffentlicher Dienst, Industrie, Handwerk und Dienstleistungen wird die Arbeitszeit – wenig überraschend – am häufigsten im öffentlichen Dienst erfasst. Und: In Organisationen mit Betriebsrat wird die Arbeitszeit etwas häufiger erfasst als in Organisationen ohne Betriebsrat (79 bzw. 71 Prozent). Fertigungsberufe sind die Berufsgruppe mit der höchsten Quote der Erfassung.
Doch genug der Statistik. Was bringt die Arbeitszeiterfassung? Laut BAuA-Bericht „weisen Beschäftigte mit (betrieblich) erfassten Arbeitszeiten durchschnittlich seltener sehr lange Arbeitszeiten oder verkürzte Ruhezeiten auf.“ Die Wahrung der Arbeits- und Ruhezeiten ist insbesondere für Berufsgruppen wichtig, die körperlich arbeiten. Die BAuA merkt zudem an, dass diejenigen, die aus dem Home-Office arbeiten und ihre Arbeitszeiten nicht erfassen, häufiger über Entgrenzung klagen.
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Gesetze schützen nicht vor toxischer Kultur im Unternehmen
Die Ergebnisse des Berichts sind ziemlich eindeutig: Arbeitszeiterfassung ist ein sinnvolles Instrument und hilft Beschäftigten dabei, ihr Arbeitspensum in Zaum zu halten.
Doch an dieser Stelle werde ich skeptisch. Zum einen liegt der Erhebungszeitraum vor der Pandemie (2019!), in der viele Menschen – insbesondere Frauen – angaben, dass flexible Arbeitszeiten jenseits der Gesetzesnormen dabei helfen, Familie und Arbeit zu vereinen. Zum anderen gibt es noch immer in vielen Berufen eine unausgesprochene Überstundenkultur. Zwar geht die Zahl der Überstunden kontinuierlich zurück, doch 2020 haben die Deutschen 1,67 Milliarden Überstunden angehäuft – oft unbezahlt.
Das Instrument der Arbeitszeiterfassung hilft wenig, wenn eine implizite Erwartung besteht, dass Beschäftigte mehr als ihr gesetzliches Soll leisten oder aufgrund von schlechter Planung oder einer dünnen Personaldecke zu Überstunden gezwungen sind. Natürlich können dokumentierte Überstunden abgefeiert oder gar ausbezahlt werden, doch die Ursache des Problems wird damit nicht behoben und der akute Stress nicht abgemildert. Kurz gesagt: Die Gesetzgebung schützt nicht vor einer toxischen Unternehmenskultur.
Dennoch müssen sowohl der Gesetzgeber, als auch Unternehmen Antworten auf die Herausforderungen der Zeit finden. Meiner Auffassung nach sollte an den Ruhe- und Erholungszeiten in vielen Branchen nicht gerüttelt werden. Wo Menschen körperliche Arbeit leisten oder in Schichtsystemen arbeiten, wird jede Stunde weniger Erholung zu einem potenziellen Gesundheitsproblem. Politische Forderungen nach einer Wochenarbeitszeit anstatt einer Tagesarbeitszeit eignen sich nicht für diese Beschäftigten.
Neue Maßstäbe für neue Realitäten
Gleichzeitig muss man sich der Realität stellen: Menschen in Dienstleistungsberufen brechen das geltende Gesetz aus freien Stücken. Vielleicht, weil sie sich abends besser konzentrieren können oder weil sie während der gängigen Arbeitszeit Sorgearbeit leisten müssen und der Arbeitstag dadurch zerstückelt wird. Das heißt nicht, dass alle gesetzlichen Regelungen aufgehoben werden sollten.
Stattdessen muss es flexible Räume und Möglichkeiten geben, Flexibilität zu ermöglichen, ohne Arbeit zu entgrenzen. Forschung, Politik und Wirtschaft müssen sich diesem Problem annehmen – sonst werden alte Maßstäbe an neue Lebensrealitäten angelegt.
Alice Greschkow ist Politikwissenschaftlerin mit Leidenschaft für New Work. Sie lebt und arbeitet seit 2015 in Berlin und verbindet beruflich politische und wirtschaftliche Themen.
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