Ronny Großjohann und Robert Harms haben eine Siemens-Fabrik in Berlin auf den Kopf gestellt – oder vielmehr auf die Füße: Die Gasturbinenfabrik ist heute selbstorganisiert. Hier erzählen sie, wie sie das gemacht haben.
1. Euch ist es gelungen, ein Siemens-Werk auf Selbstorganisation umzustellen. Wie kam es dazu?
2014 waren wir mitten in unserem Fabrikplanungsprojekt, das zum Ziel hatte, die Produktion einer wichtigen Komponente der Gasturbine wieder zu 100 Prozent am Berliner Standort zu fertigen. Wir waren an einen Punkt gekommen, an dem klar wurde, dass es uns nicht gelingen würde, etwas “Besonderes” zu schaffen. Formal war alles korrekt, weil wir die vorgeschriebenen Methoden des klassischen Projektmanagements bis aufs letzte Wort anwandten – doch es war deutlich sichtbar, dass die Beteiligten zwar formal ihren Job machten, aber in der Gesamtheit das Projekt keinen Schritt voranging. Jeder war beschäftigt mit seinen mandatierten Arbeitspaketen, mit Berichten, wo er oder sie steht, und mit Rechtfertigungen, warum dies und das noch nicht so umgesetzt worden war, wie es in einem der vorgeplanten Arbeitspaketen definiert war.
Zu diesem Zeitpunkt wurde uns klar, dass wir mit Hilfe der formalen Strukturen, die sicherlich gut intendiert waren, die Projektbeteiligten nur zu kleinen Rädchen in einem großen Getriebe einer noch größeren Maschine gemacht hatten. So hatten wir für die Kollegen den eigentlichen Sinn des Projektes entfernt und die Entfaltung ihrer eigentlichen Fähigkeiten und Potenziale nachhaltig eingeschränkt oder gaz gänzlich verhindert.
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Wir begannen, darüber zu diskutieren und kamen schließlich zu dem Schluss, dass wir ein grundlegend anderes Arbeitssystem benötigen, ein komplett neues Betriebssystem. Eines nämlich, das die Räume aufmacht, dass sich die Kollegen wieder als selbstbestimmte Teilhaber des Projektes verstehen und mit größtmöglicher Eigenverantwortung der gemeinsamen Sache vorantreiben: Die beste Fabrik für Gasturbinenbrenner zu bauen.
2. Wie habt ihr das umgesetzt?
Zu der damaligen Zeit war uns die Begrifflichkeit von New Work noch nicht bekannt. Wir als formale Projektleiter mussten erst einmal verstehen, was eigentlich gerade schiefläuft. Viele der bekannten Muster, insbesondere der strukturellen Formalismen, waren im Werk und bei den Mitarbeitern tief verinnerlicht. Wir konnten aber auf auf unsere eigenen Erfahrungen aus der Zeit zurückgreifen, in der wir wie ein kleines Start-up die ursprüngliche Idee des Projektes entwickelt hatten. Damals hatten wir den Freiraum, ohne Mandat und Auftrag das Thema zu bearbeiten, für welches wir eine tiefe Leidenschaft hatten.
So ein Umfeld zu schaffen war der erste Schritt auch im Projekt. Wir wollten die bisherigen hierarchischen, fast planwirtschaftlichen Strukturen aufbrechen, und einen Raum zu schaffen, in dem sich mehrere Teams frei für den gemeinsamen Zweck verwirklichen konnten. Die Voraussetzungen waren gut, da wir die geplante Fabrik modular in mehrere “Teilfabriken” unterteilten und jede für sich wie ein kleines Unternehmen starten konnte – mit selbstnominierten Projektteilhabern, die eigenverantwortlich darüber entschieden, wie sie arbeiten wollen und was sie bearbeiten, um eine gemeinsamen Sache zu verwirklichen.
Innerhalb dieses Raumes entwickelte sich das, was wir heute “flüssige Hierarchie der Sinn und Zwecke” nennen, in dem jeden Tag die Struktur etwas anders aussah. Themen und kleinere Projekte kamen und gingen, so wie es der aktuellen Situation dienlich war. Es gab keine geplanten und kontrollierten Arbeitsablauffolgen mehr. Es wurde nach Wichtigkeit der Aufgabe für den Sinn und Zweck jederzeit neu priorisiert und auch die Wahl der Werkzeuge oder Lösungsansätze waren jederzeit frei wählbar und auch änderbar. Wir hatten etwas geschaffen, das wir heute als Lernkultur oder selbstlernende Organisation bezeichnen.
3. Welche Herausforderung kam auf euch zu?
Da es keine vorab geplante, ganzheitliche Transformation war, sondern eher ein aus der Situation geborenes Veränderungskonzept innerhalb einer bestehenden Struktur, hatten wir zunächst nicht mehr als unsere eigene Überzeugung, dass es funktionieren muss. Es gab kaum Erfahrungen mit den Mechanismen, sowohl auf individueller psychologischer als auch auf gemeinsamer soziologischer Ebene. Die größte Herausforderung, damit aber auch die größte Lernerfahrung für uns alle war es, Stück für Stück mit den neuen Konzepten zu experimentieren und die Wirkungen zu verstehen.
Wenn etwas gut funktionierte – z.B. die ersten Entscheidungsprozesse für Werkzeugmaschinen wurden durch die Teams in Eigenverantwortung übernommen – dann war es großartig. Anfangs jedoch waren alte Muster immer immer wieder präsent, wie das Zurückgeben wichtiger Entscheidungen an die formalen Projektleiter oder das Einfordern von Fortschrittsberichten. Durchhalten und nicht gleichzeitig in die Muster der alten Sozialisierung zurückzufallen, hat viele von uns immer wieder viel Energie gekostet. Durch gemeinsames “darüber sprechen”, gegenseitiges Aufheben und vor allem ständiges Lernen und Anpassen unseres Arbeitsmodells haben wir es aber geschafft, eine Art evolutionäre Verbesserung über die Jahre hinweg zu leben. So konnte sich jede und jeder einzelne nach ihren oder seinen Vorstellungen entwickeln und damit die Projektorganisation als Ganzes ebenfalls.
4. Wie habt ihr ins Haus hinein erklärt, was ihr vorhabt und wie das geht?
Anfangs haben wir, da es uns damals als richtig erschien, das neue Arbeitsmodell ausschließlich innerhalb des Projektes umgesetzt und nach außen hin die alten Muster bedient. So konnten wir eine Art sicheren Raum schaffen, in dem wir vieles ausprobierten und kontinuierlich gelernt haben. Unsere Rolle als Projektleiter hat sich immer mehr an die Grenze zur restlichen Organisation verlagert und wir haben versucht eine Art Strukturschutz zu etablieren. Dadurch haben wir einerseits für die Projektbeteiligten einen sicheren Raum geschaffen und es war nicht schwer mehr und mehr Kolleginnen und Kollegen zu begeistern. Andererseits haben wir nach außen die Illusion eines klassisch geplanten Projektes aufrechterhalten und die traditionellen Erwartungen (z.B. Lenkungskreise veranstalten und Berichte abliefern) erfüllt.
Aus heutiger Sicht würden wir das nicht mehr so angehen, da es die Überführung der neuen Philosophie in den operativen Betrieb zu einem späteren Zeitpunkt erschwert hat. Frühzeitiges Beschreiben und Erklären, wozu und wie man das Arbeitsmodell in welchem Raum ändern will bei den formal eingesetzten Führungsebenen, ist immer noch das wirksamste Mittel, um sich die Energie für den Strukturschutz zu sparen und mehr auf die eigentliche Organisationsentwicklung zu lenken. Wenn wir heute mit Teams arbeiten, sehen wir, dass es auch den meisten Führungsebenen ein Anliegen ist, die Arbeitsmodelle zu verbessern und das etwaige Ängste des Macht- oder Statusverlust deutlich geringer sind als häufig angenommen. Dennoch hilft es natürlich mit erfolgreichen Beispielen Denkimpulse zu setzen. So hat die Außenwirkung – wie zum Beispiel der Xing New Work Award, wir den 2018 für das Projekt gewonnen haben – auch geholfen, Skeptiker zum Nachdenken oder gar Ausprobieren anzuregen. Auch ist die Kommunikationsfähigkeit der mitwirkenden Kollegen nicht zu unterschätzen, es wird darüber geredet. Es ist gut vorstellbar, dass die Begeisterung der Leute, die in diesem Umfeld Werte schafften, ein wesentlicher Impuls für alle anderen war.
5. Was ist euer wichtigstes Learning aus dem Prozess?
Das Wichtigste, dass wir gelernt haben ist, dass es nicht das eine Learning gibt. New Work ist nicht ein Konzept, das man als Vision irgendwo hinschreiben und dann die Veränderung danach ausrichten kann. New Work ist eher wie eine sich gerade entwickelnde Stadt, die sich ständig ändert. Neue Erkenntnisse, neue Bedürfnisse, neue Ansätze entwickeln sich täglich und jede/r Einzelne und jede Gruppe, die in dieser Stadt unterwegs ist oder dort leben möchte, braucht andere Angebote. Und wirkt auch auf diese zurück. Deswegen fangen wir immer mit dem Mindset oder dem Bewusstsein der Beteiligten an zu arbeiten, denn nur wenn die Einzelbedürfnisse und -erwartungen in einer gemeinsamen Sache aufgehen, kann sich das richtige Arbeitsmodell mit seiner Organisation und seinen Methoden für die jeweilige Gruppe entwickeln.
Und noch wichtiger ist: Eine Stadt wird nie fertig und entwickelt sich immer weiter. Wir haben auch einen ganz eigenen Blickwinkel auf agile Organisationen entwickelt. Es ist nicht die Veränderung an sich, die eine agile Organisation ausmacht, auch nicht die Tools oder Methoden, sondern vielmehr die Fähigkeit einer Organisation Veränderung oder Beweglichkeit zuzulassen.
6. Wenn ihr einer anderen Organisation einen Rat geben würdet, die sich auch auf den Weg macht: Welcher Ratschlag wäre das?
Häufig sehen wir, dass entkoppelte Teams oder Pilotprojekte gestartet werden oder dass in Innovations-Hubs neue Wege ausprobiert werden. Auf der einen Seite hilft das natürlich den vorher beschriebenen Strukturschutz zu schaffen, aber es ist eben außerhalb. Ein Transfer in die eigentliche Organisation ist extrem schwer oder gar unmöglich. Vielmehr ist eine Transformation am offenen Herzen, mitten im System, hilfreich. Natürlich ist auch dort der Strukturschutz und viel Kommunikation erforderlich, aber in unserer Erfahrung ist nichts stärker als eine Transformation durch die Kollegen selbst, im eigenen Kontext, am eigenen Ich, in der eigenen Gruppe. Nachhaltige Veränderungen, im Sinne der neuen Arbeitsweisen, wirken nicht durch Labore oder Laborversuche, sondern grundsätzlich nur dort, wo Menschen miteinander arbeiten, voneinander lernen und an einer gemeinsamen Sache arbeiten.
Robert Harms arbeitete über acht Jahre bei der Siemens AG in mehreren Führungspositionen, unter anderem der Leitung mehrerer Fabrikplanungs- und Innovationsprojektke mit Fokus auf selbstorganisierte Teams und agile Arbeitsmethoden. Zuvor promovierte er im Bereich Produktionstechnologien und Digitalisierung und hat mehrjährige Erfahrung mit der Leitung internationaler Forschungsprojekte. Heute arbeitet er als selbständiger Organisationsentwickler (NextGenerationWorX) und ist Mitgründer eines Industrial IoT Unternehmens (5thIndustry).
Ronny Großjohann arbeitet seit etwa 15 Jahren bei der Siemens AG und kann auf eine mehrjährige Leitung unterschiedlicher Teams in Planungs-, Entwicklungs- und Fertigungsbereichen zurückblicken. Unter anderem hat er die Projektleitung mehrerer Fabrikplanungsprojekte übernommen mit dem Fokus auf Neue Arbeitsformen (New Work). Zudem arbeitet Ronny als selbständiger Organisationsentwickler (NextGenerationWorX).