Aufmerksamkeit ist ein rares Gut in der modernen Arbeitswelt. Doch ist es wirklich die Umgebung, die uns von unserer Arbeit ablenkt? Eva Siem ist Psychologin und Expertin für den produktiven „Flow-Zustand“. Und sie weiß, wie wir das Wissen um unsere Gewohnheiten zielgerichtet nutzen können.
Warum sind persönliche Gewohnheiten, Routinen und die individuelle Auseinandersetzung mit ihnen so wichtig?
Kurz gesagt: Weil sie unser Wohlbefinden und unsere Produktivität bestimmen. “Die Macht der Gewohnheit” ist auch keine wirklich neue Erkenntnis. Schon Aristoteles hat festgestellt: “We are what we repeatedly do. Excellence then is not an act but a habit.“ Die moderne Neurowissenschaft kann das anhand der sogenannten Neuroplastizität des Gehirns erklären: Unser Gehirn entwickelt sich nämlich mit der Erfahrung weiter.
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Das bedeutet, je öfter wir bestimmte Dinge tun, denken oder fühlen, desto stärker wird die entsprechende synaptische Verbindung ausgeprägt und desto automatisierter werden dieselben Handlungen, Gedanken oder Gefühle beim nächsten Mal wieder abgerufen. Wir automatisieren also bestimmte Abläufe, um Energie zu sparen. Es gibt Studien, die zeigen, dass ganze 43 Prozent unserer Handlungen unbewusst und aus reiner Gewohnheit geschehen. Die Frage ist nur, welche Abläufe wir automatisieren – nachhaltig produktive oder unproduktive?
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns unserer Gewohnheiten erst einmal bewusst werden und uns aktiv mit ihnen auseinandersetzen. Vielleicht bleibt dann das Handy öfter mal im Flugmodus, damit wir uns besser konzentrieren können, Pausen werden bewusst eingeplant, um die Batterien wieder aufzuladen und frische Luft bei einem Spaziergang kann helfen, den Fokus wiederzufinden.
“We are what we repeatedly do, think, and feel. Productivity then is not an act but a habit.”
Ich finde es allerdings besonders wichtig, in diesem Prozess nicht nur Gewohnheiten auf der Verhaltensebene zu hinterfragen, sondern auch auf der mentalen und emotionalen Ebene. Wie wir letztes Jahr in einer Umfrage zusammen mit „On the Way to New Work“ herausgefunden haben, sind nämlich ablenkende Gedanken und schwierige Gefühle für viele Wissensarbeiter/innen mit die größte Ablenkungsquelle, besonders im Home-Office.
Wir sollten uns also auch fragen: Ist es wirklich die Umgebung, die mich ablenkt oder sind es vielleicht innere Impulse, die mich von der Aufgabe abhalten? Entsteht der Stress wirklich durch die lange To-Do-Liste oder stecken bestimmte Erwartungen und Überzeugungen dahinter, die es wert sind, überprüft zu werden? Und welche Perspektive lohnt es sich einzunehmen, um sich selbst für eintönige Aufgaben motivieren zu können?
Bei Flow Lab erweitern wir das Aristoteles-Zitat deshalb gerne: “We are what we repeatedly do, think, and feel. Productivity then is not an act but a habit.”
Welche Rolle spielen Gewohnheiten in den Organisationen und in der Arbeitswelt von heute?
Ich denke, in der neuen Arbeitswelt haben wir viele (teils unbewusste) Gewohnheiten entwickelt, die nicht immer zuträglich für unser Wohlbefinden und unsere Produktivität sind. Etwas plakativ kann man sagen, dass produktives Arbeiten noch nie so schwer war wie heute: Stress und Überforderung führen dazu, dass die Burnout-Rate zunehmend steigt, gleichzeitig können sich viele kaum motivieren. Angeblich machen 71 Prozent lediglich “Dienst nach Vorschrift” und 14 Prozent haben “innerlich bereits gekündigt”. Hinzu kommt, dass wir uns im Schnitt alle sechs Minuten ablenken – die meisten Ablenkungen sind dabei selbst verursacht.
Flow ist der produktive Schaffensrausch, in dem wir mühelos Hochleistungen abrufen
Dahinter stecken meist keine vereinzelten Situationen, sondern vor allem Gewohnheiten, wie wir bestimmte Herausforderungen und Aufgaben angehen. Ein vielversprechender Ansatz für nachhaltige und gesunde Leistungsfähigkeit sind Routinen sowie mentale und emotionale Gewohnheiten, die den „Flow“ fördern.
Flow ist der produktive Schaffensrausch, in dem wir mühelos Hochleistungen abrufen und alles um uns herum ausblenden können. Besonders in der heutigen Zeit können wir sehr von Flow profitieren: Zahlreiche Studien belegen positive Effekte wie bessere Performance, geringeres Burnout-Risiko, mehr organisationales Commitment, höhere Arbeitszufriedenheit und mehr Kreativität. Flow-förderliche Routinen sind somit für Organisationen und Mitarbeitende gleichermaßen relevant.
Zu den „flow-förderlichen Routinen“ kommen wir gleich. Vorher würde ich Dich gern um eine Einschätzung bitten: Wie haben sich unsere Routinen und die Anforderungen an sie in den vergangenen Jahren verändert?
Die immer komplexer werdende neue Arbeitswelt geht mit einer nie dagewesenen Freiheit einher: Entscheidungen werden autonomer getroffen, die Arbeitszeit kann flexibler eingeteilt werden und viele Mitarbeitende erledigen ihre Aufgaben vermehrt – besonders seit Corona – im Home-Office. Die Kehrseite der Medaille ist allerdings, dass diese Freiheit viele Herausforderungen mit sich bringt, die die Produktivität und das Wohlbefinden von Mitarbeitenden auf die Probe stellt. Denn mit zunehmender Arbeitsflexibilisierung und weniger Struktur von außen müssen wir lernen, selbst produktive Strukturen zu schaffen.
In der sogenannten VUCA-Welt (eine Welt, die volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig ist) ist das nur gar nicht so leicht. Permanent kämpfen Push Notifications, E-Mails und diverse News Feeds um unsere Aufmerksamkeit; Schnelllebigkeit und Konkurrenzdruck führen zu regelmäßigen Grübeleien darüber, ob wir wohl mit anderen mithalten können und ob unsere Performance ausreicht. Und weil das Gehirn Energie sparen möchte, automatisiert es bestimmte Prozesse – wie zum Beispiel unseren Umgang mit diesen Herausforderungen!
Es wird immer wichtiger, sich mit den eigenen Gewohnheiten auseinanderzusetzen
Wer greift noch automatisch zum Handy und checkt schon morgens im Bett die E-Mails oder Benachrichtigungen, weil wir das Gefühl haben, ständig erreichbar sein zu müssen? Aber auch auf mentaler und emotionaler Ebene haben wir einige unproduktive Gewohnheiten entwickelt: Das kann das Abschweifen mit den Gedanken beim Arbeiten sein, weil wir uns an ständige Reizüberflutung gewöhnt haben und beim Fokus auf eine einzige Aufgabe schneller gelangweilt sind. Oder auch die Art und Weise, wie wir mit uns selbst reden. Denn in einer Welt, in der “höher, schneller, weiter” fast der allgemein anerkannte Standard geworden ist, tendieren wir schneller zu Selbstzweifeln und Selbstkritik. Es wird deshalb immer wichtiger, Selbstführungskompetenzen zu erlernen und sich eigenverantwortlich mit den eigenen (mentalen und emotionalen) Gewohnheiten auseinanderzusetzen.
Selbstführung und Selbstreflexion sind also zwei „flow-föderliche“ Kompetenzen. Wie etabliert man neue Gewohnheiten?
Zuerst lohnt es sich zu überlegen, was diese Gewohnheit denn eigentlich “gut” macht: Was ist meine Motivation? Wie hilft mir die Gewohnheit, nicht nur ein bestimmtes Ziel zu erreichen, was anschließend abgehakt werden kann, sondern auch langfristig die Person zu werden, die ich sein möchte? Trägt sie dazu bei, dass ich mehr im Einklang mit meinen Werten lebe?
Wenn wir uns mit einer Gewohnheit wirklich identifizieren können und die Zeit investieren, uns diese etwas schwierigeren Fragen zu stellen, ist es auch leichter, langfristig am Ball zu bleiben. Wenn es dann um die Umsetzung selbst geht, helfen wiederkehrende Abläufe und Routinen, eine Gewohnheit zu bilden.
Nenn doch bitte noch ein paar weitere flow-förderlichen Routinen.
Dafür gibt es unzählige Tipps. Einige raten zu Self-Cueing, also die Umgebung anzupassen, indem man sich zum Beispiel die Sportkleidung schon am Abend vorher raus legt oder sich für die “Deep Work Session” vor eine weiße Wand setzt. Sogenannte “Implementation Intentions” (“Wenn…, dann… – Pläne”) können außerdem produktive Handlungen automatisieren, z.B. “Wenn ich mich dabei ertappe, wie ich beim Arbeiten durch Instagram scrolle, stelle ich mein Handy sofort auf Flugmodus und lege es außer Reichweite.“
Mentaltraining in die Morgenroutine integrieren
Meiner Erfahrung nach ist es damit allerdings noch nicht getan. Denn es gibt immer noch diesen kleinen Entscheidungsmoment, in dem ich mich entweder aufraffe, die Sportmatte auszurollen oder doch länger im Bett bleibe. Und in diesem Entscheidungsmoment ist unsere mentale und emotionale Verfassung entscheidend. Um sich darauf vorzubereiten, könnte Mentaltraining in die Morgenroutine integriert werden. In Workshops sammeln wir für solche Momente außerdem passende Leitfragen. Diese helfen, uns zu regulieren und unsere Gedanken und Emotionen zielführend auszurichten.
Bei Trägheit könnten wir eine andere Haltung einnehmen, indem wir uns fragen: “Was hat mich ursprünglich motiviert, diese Gewohnheit zu etablieren?” oder “Wie werde ich mich direkt danach fühlen, wenn ich mich aufgerafft habe?” Bei Rückschlägen könnten wir uns fragen: “Was kann ich daraus lernen? Was mache ich nächstes Mal besser? Wie ist eine andere Person mit solchen Herausforderungen umgegangen, die diese Gewohnheit schon fest etabliert hat?”
Wie können wir von „schlechten“ Gewohnheiten lassen?
Auch hier lohnt es sich, einen Blick hinter das Verhalten zu werfen und zu fragen, welche Gedanken und Gefühle hinter der Gewohnheit stecken. Ist Prokrastination wirklich ein Resultat aus Zeitmanagement-Problemen oder habe ich vielleicht Angst, dass meine Performance nicht ausreicht? Lenke ich mich ab, weil das Handy aufblinkt oder sind da vielleicht noch unbequeme Gefühle, mit denen ich mich gerade nicht auseinandersetzen will? Damit wir schlechte Gewohnheiten nicht durch andere schlechte Gewohnheiten ersetzen, lohnt es sich, direkt die Ursachen zu beleuchten und sich solche Reflexionsfragen zu stellen.
Mithilfe von Leitfragen eine zielführende Haltung einnehmen – und die Schokolade gar nicht erst kaufen
Sobald wir das klar vor Augen haben, können wir uns zum Beispiel eine/n Accountability Partner/in suchen, Auslöser in der Umgebung eliminieren, die diese Gewohnheit triggern, zum Beispiel indem wir das Handy ins Zimmer nebenan legen oder die Schokolade gar nicht erst kaufen, und mithilfe von Leitfragen eine zielführende Haltung einnehmen: “Was kann ich gewinnen, wenn ich durchhalte? Was würde ich verlieren, wenn ich nachgebe?”
Welche Rolle spielt das Thema in Deinem Job?
Das Thema Gewohnheiten und Routinen ist in meinem Job auf unterschiedlichen Ebenen wichtig. Da ich für eine Mentaltraining-App arbeite, beschäftige mich natürlich inhaltlich damit – was sagt die Wissenschaft und wie können wir das in praktische Tools übersetzen? Dabei werde ich zudem selbst immer wieder inspiriert, meine eigenen Gewohnheiten zu hinterfragen.
Ich habe das Glück, dass die Aufmerksamkeit für diese Themen in unserem Team ohnehin hoch ist, weil wir uns genau damit beschäftigen, und diese eigene Auseinandersetzung deshalb aktiv unterstützt wird. Ich führe mit meinem Chef monatliche Feedbackgespräche, in denen wir gemeinsam Arbeitsweisen, Kommunikation oder auch persönliche mentale und emotionale Hürden besprechen und Verbesserungsvorschläge sammeln.
Beim Etablieren von produktiven mentalen und emotionalen Gewohnheiten besteht noch viel Bedarf
Bei Flow Lab tragen wir unsere individuellen “Deep Work Sessions” als Termin in den gemeinsamen Kalender, damit alle anderen wissen, dass wir in diesem Zeitraum nicht erreichbar sind. In Bürozeiten haben wir in der Mittagspause gemeinsam meditiert, um uns auf die zweite Hälfte des Arbeitstages vorzubereiten. Und manchmal tauschen wir uns auch einfach nur über unsere Gewohnheiten aus, um uns gegenseitig auf neue Ideen zu bringen. Ich fand zum Beispiel den Impuls schön, es zur mentalen Gewohnheit zu machen, anderen grundlegend erst einmal eine positive Intention zu unterstellen. Besonders in nicht ganz eindeutigen Momenten kann das die Kommunikation verbessern und Empathie erhöhen.
Was Unternehmensworkshops angeht, finde ich es spannend, dass viele schon funktionierende Routinen auf der Verhaltensebene wie Aufgabenpriorisierung oder Zeitmanagement für sich gefunden haben. Die Nachfrage ist besonders groß bei den “Mental Fitness Workshops”, bei denen wir unter anderem den Umgang mit Gedankenwandern, Stress, Selbstzweifeln oder auch Motivationsschwierigkeiten thematisieren. Das zeigt noch einmal, dass beim Etablieren von produktiven mentalen und emotionalen Gewohnheiten anscheinend noch viel Bedarf besteht.
Welche Gewohnheiten und Routinen prägen Deinen Arbeitsalltag?
Morgens helfen mir Routinen für das sogenannte “Reattach in the Morning”: Ich meditiere direkt nach dem Aufwachen, um produktiv und ausgeglichen in den Tag zu starten. Ich bestimme meine wichtigste Aufgabe für den Tag, um meinen Fokus darauf auszurichten und setze mir Intentionen – also überlege, mit welcher Haltung oder Perspektive ich bestimmte Aufgaben angehen möchte. Monotone Aufgaben lassen sich leichter mit einer neugierigen Haltung erledigen, während es bei sehr schwierigen Aufgaben eher helfen kann, sie als Lernerfahrung einzuordnen und Selbstmitgefühl zu entwickeln.
In der Mittagspause und vor Workshops mache ich gerne Atemübungen, um mich auch körperlich zu regulieren. Mit der Atmung können wir nämlich bewusst die Aktivität des autonomen Nervensystems beeinflussen. Bin ich eher angespannt und gestresst, wähle ich parasympathisch aktivierende Atemübungen, die mich also entspannen (z.B. vier Sekunden einatmen, sieben Sekunden halten, acht Sekunden ausatmen). Stecke ich allerdings im Mittagstief, mache ich sympathisch aktivierende Atemübungen, die mein Energielevel erhöhen (z.B. sechs Sekunden einatmen, vier Sekunden ausatmen).
Ich reflektiere abends, was ich an dem jeweiligen Tag geschafft habe
Weil ich bei der Arbeit im Content Development viel “Output” generiere, blocke ich mir außerdem regelmäßig Zeit, um auch neuen “Input” zu bekommen. Ich plane also bewusst Zeit, um Bücher und Studien zu lesen oder an Webinaren teilzunehmen. Wenn ich es nicht aktiv als Routine etablieren würde, kämen immer vermeintlich dringlichere Aufgaben dazwischen. Was ich aktuell noch übe, ist das “Detach in the Evening”, also den Arbeitstag bewusst abzuschließen und mich mental von der Arbeit abzugrenzen. Ich reflektiere abends, was ich an dem jeweiligen Tag geschafft habe und schreibe mir schon die Aufgaben für den nächsten Tag auf. Vielleicht fällt mir dabei auch noch ein, was mir (beim Arbeiten und allgemein) gut gelungen ist und was ich am nächsten Tag besser machen kann.
Was tust Du, um gute Gewohnheiten bei Dir zu verankern?
Wenn ich an mein Studium denke, erinnere ich mich noch an viele Stunden in der Bibliothek – ohne hinterher viel erledigt zu haben. Ich habe es zwar immer an den Schreibtisch geschafft, war aber gleichzeitig Meisterin darin, gedanklich abzuschweifen, Ablenkungen vor mir selbst zu rechtfertigen oder auch “produktiv zu prokrastinieren”. Das heißt, ich habe eine unbequeme Aufgabe vor mir hergeschoben und mich anderen, weniger wichtigen Aufgaben gewidmet. Ich war also beschäftigt, aber nicht produktiv.
Um das zu ändern, war erst einmal Selbstwahrnehmung nötig. Durch Achtsamkeitstraining konnte ich schneller erkennen, wenn ich in unproduktive Muster rutschte und welche Gedanken oder Gefühle dabei eine Rolle spielten. Das allein reicht allerdings nicht – Selbstregulierung ist mindestens genauso wichtig. Bei Langzeitzielen fokussiere ich mich immer nur auf den allernächsten Schritt, um nicht überwältigt zu werden von allem, was noch auf mich wartet. Mit der Zeit wird das Gefühl, stetig kleine Fortschritte zu machen, viel befriedigender als ein kurzfristig gutes Gefühl durch Ablenkung.
Priorisiert Kontinuität statt “Alles oder Nichts”!
Ich stelle mir immer wieder bewusst die Frage, was ich Neues lernen und entdecken kann oder wie mich das Erledigen der Aufgabe meinen Zielen näher bringt. Das hilft, Neugier für die Themen zu entwickeln, sodass sich das Arbeiten daran nicht wie ein “Aufraffen” anfühlt. Übrigens zeigen auch Studien, dass Menschen mit Durchhaltevermögen und Leidenschaft (“Grit”) weniger hedonistisches Glück suchen, sondern durch Einsatz und einen Fokus auf den Prozess ihr Wohlbefinden viel nachhaltiger steigern.
Was ist Dein Ratschlag für Menschen, die an ihren Gewohnheiten arbeiten wollen?
Priorisiert Kontinuität statt “Alles oder Nichts”. Nachsicht und Selbstmitgefühl helfen uns viel eher durchzuhalten. Geraten wir nämlich in das bekannte “Alles-oder-Nichts”-Denken, geben wir bei Hindernissen schneller auf. Wir müssen nicht direkt mit Vollgas starten – Gewohnheiten bauen sich am besten Schritt für Schritt auf. Wir sollten Hindernisse lieber einplanen.
Man sagt, Gewohnheiten seien “metastabil” – stabil gegenüber kleinen Veränderungen, aber instabil gegenüber großen Veränderungen. Vielleicht schaffen wir es bereits seit einigen Wochen oder sogar Monaten, uns ausgewogen zu ernähren. Ein vorgezogenes Meeting (kleine Veränderung) macht uns nicht direkt einen Strich durch die Rechnung, sodass wir mit der Gewohnheit brechen. Bei Urlauben oder veränderten Lebensumständen, also größeren Veränderungen, ist die Gefahr deutlich höher.
Eine Möglichkeit wäre, die “Minimal Consistent Dose” zu bestimmen: “Was ist der allerkleinste Schritt, um meiner Routine nachzugehen?” Vielleicht ist es nur eine Minute der Atemübung oder eine einzige Kniebeuge. Egal, was einmal dazwischen kommt – für diesen einen kleinen Schritt findet sich eigentlich immer Zeit. Denn am Ende geht es nicht darum, die gesamte Routine ganz oder gar nicht zu durchlaufen, sondern ihr kontinuierlich nachzugehen.
Mit Reflexionsfragen, Achtsamkeit oder Visualisierungen können wir Motivation und Konzentration stärken
Und natürlich birgt regelmäßiges Mentaltraining großes Potenzial, uns beim Etablieren produktiver Routinen zu unterstützen. Mit Reflexionsfragen, emotionalem Priming, Achtsamkeit oder Visualisierungen können wir Motivation, Durchhaltevermögen, Selbstbewusstsein und Konzentration stärken – alles Ressourcen, die wir in diesem Prozess gut gebrauchen können.
Und was ist Dein Ratschlag für Organisationen, die sich auf die Suche machen, ihre eigenen Gewohnheiten zu verstehen, um sich zu verändern?
Gewohnheiten von Organisationen können auf der individuellen, kollektiven und auf der organisationalen Ebene analysiert werden. Neben individuellen Gewohnheiten, die Mitarbeitende für sich selbst reflektieren können, kann auf kollektiver Ebene zum Beispiel die Kommunikation und das Miteinander im Team betrachtet werden. Wie werden Entscheidungen getroffen und kommuniziert, über welche Plattformen wird kommuniziert, wo gehen Informationen vielleicht verloren, wie ist die kollegiale Unterstützung und wie laufen Meetings ab?
Für diesen Prozess kann man sich an den Voraussetzungen für kollektiven Flow (“Group Flow”) orientieren. Die Forschung empfiehlt unter anderem klare, gemeinsame Ziele, direktes Feedback, Autonomie der Mitarbeitenden, gegenseitiges Vertrauen, eine gemeinsame Herausforderung.
Ein Austausch auf Augenhöhe fördert das Verständnis
Darüber hinaus ist auch die organisationale Ebene spannend, denn neben persönlichen Werten und Motivationen gibt es natürlich auch organisationale Werte. Für ein gutes Arbeitsklima, produktive Gewohnheiten auf Organisationsebene und auch für Flow sollten Organisationswerte und die Vision klar definiert sein. Bestenfalls können sich alle mit ihnen identifizieren. Diese müssen natürlich nicht statisch bleiben, sondern verändern sich womöglich mit der Zeit und den Mitarbeitenden.
Ich denke, für alle drei Ebenen – individuell, kollektiv und organisational – können regelmäßige Feedbackgespräche und Reverse Mentoring ein hilfreicher Ansatz sein. Ein Austausch auf Augenhöhe fördert das Verständnis sowohl bei Führungskräften (“Was sind die Bedürfnisse meiner Mitarbeitenden? Was sind ihre Herausforderungen?”) als auch bei Mitarbeitenden (“Welche Einschränkungen oder Möglichkeiten gibt es von Unternehmensseite aus?”). Aus psychologischer Sicht kann die Möglichkeit, selbst kulturelle Veränderung anzustoßen und Mitspracherecht zu haben, Mitarbeitende zusätzlich motivieren und eine Grundlage für Flow schaffen.
Eva Siem hat Psychologie mit dem Schwerpunkt Talent Development & Creativity an der Universität Groningen (NL) studiert und Weiterbildungen im Bereich Mentalcoaching, Entspannungstherapie und Atemtraining gemacht. Heute arbeitet sie als Head of Content Development bei der Mentaltrainingsapp Flow Lab, Coach für Young Professionals und Dozentin für Kursleiter/innenausbildungen am Mitteldeutschen Institut für Weiterbildungen. Außerdem engagiert sie sich als Mentorin bei FeMentor. Ihr Motto: “It is not enough to be happy to have an excellent life. The point is to be happy while doing things that stretch our skills, that help us grow and fulfill our potential” (Prof. Mihály Csíkszentmihályi).
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