„Kann alles. Nichts richtig?“ Sandra Kaul hat einen ganzen Bauchladen an Fähigkeiten und Tätigkeitsfeldern. Doch das ist kein Nachteil, sondern ein echtes Erfolgsrezept. Hier beschreibt sie, wie das geht – und warum das auch für Unternehmen gilt.
„Was genau arbeitest Du jetzt eigentlich?“ – eine klitzekleine Frage, die vor sieben Jahren mein berufliches Selbstverständnis zum Einstürzen gebracht hat. Gerade hatte ich mich nach meiner zweijährigen Ausbildung als systemische Coach selbstständig gemacht. Meine beruflichen Einträge auf Xing und Co. waren frisch aktualisiert. Eine aufregende Zeit, in der ich mich beruflich erst einmal wieder neu sortieren durfte. In meiner letzten Festanstellung leitete ich die Kommunikation eines Verbandes aus dem Energiebereich und war seit Jahren sehr eindeutig als Public-Relation- und Marketing-Spezialistin positioniert. Jetzt war ich also Coach und auf der Suche nach neuen Auftraggeber/innen.
Wild und frei mit mehreren beruflichen Standbeinen
Meine bisherigen beruflichen Netzwerke funktionierten immer noch blendend, deshalb bekam ich als Selbstständige auch Aufträge für Kommunikationsjobs: Ein Geschäftsbericht hier, ein Werbefilm da, ein paar Pressemitteilungen dort. Natürlich nahm ich diese gut bezahlten Jobs an, denn so konnte ich mir mit dem Aufbau meiner Coachingpraxis Zeit lassen – die Wohnung war ja bezahlt. Außerdem fühlte es sich wild und frei an, jeden Tag vor neuen Aufgaben zu stehen, die meine unterschiedlichen Kompetenzen als Coach oder Kommunikationsberaterin brauchten.
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Eine Nachricht auf Xing von einem potentiellen Auftraggeber für Coachings weckte mich hart aus meinen Träumen: „Hallo Sandra, bist Du jetzt also auch Coach geworden? Machen ja gerade alle. Was genau arbeitest Du jetzt eigentlich? Kommunikation oder Coaching? So richtig ernst meinst Du es noch nicht, oder? Ich sehe, dass Du gerade wieder für die Werbefilmproduktion arbeitest. Gutes Gelingen wünsch ich Dir!“ Als ich diese Zeilen las, saß ich gerade mit meinen Freunden in einer Taverne auf Kreta bei einem kühlen Bier – ich war stolz, dass ich mir als frischgebackene Selbstständige drei Wochen Urlaub leisten konnte.
Der Spagat zwischen Expert/innentum und der eigenen beruflichen Vielfalt
Meine Gesichtszüge müssen mir wahnsinnig entglitten sein und Jannis, einer meiner engsten Freunde auf Kreta, fragte mich, ob alles okay sei. „Nichts ist okay!, winselte ich und merkte, dass mich diese Nachricht mehr getroffen hatte, als mir lieb war. Ja, ich war mal wieder zu viel. Zu viel Kommunikationsberaterin, zu viel Werbefilmproduzentin, und jetzt auch noch Coach. Ich sah mich selbst mit einem Bauchladen an Kompetenzen in der Gegend herumstehen, über dem Kopf ein Schild: „Kann alles. Nichts richtig.“ Verdammt. Meine clevere Idee, mit mehreren Standbeinen in die Selbstständigkeit zu starten, war gescheitert.
„Meinst Du wirklich?“, fragte mich Jannis und fing an, von sich zu erzählen. Nach dem Abi hatte er Informatik studiert, im Frühling begleitet er Touristen auf Wanderungen durch die kretischen Berge, im Sommer arbeitet er als Kellner in einer Taverna, im Herbst erntet er Oliven und im Winter geht er auf Reisen durch die ganze Welt. Nebenbei programmiert er Webseiten für Reiseanbieter und macht den besten Cappuccino der Insel. „Ich wäre doch blöd, wenn ich nur als Programmierer Geld verdienen würde, oder? Hier auf Kreta macht niemand nur einen Job. Wir können ganz viel und das macht uns am Ende des Tages reich.“
Vom Bauchladen zum Businessmodell
Hatte Jannis Recht? Machte mich mein „zu viel“ vielleicht reich und ich merkte es gar nicht? Lasse ich mich durch den Gedanken, dass nur eine eindeutige Positionierung beruflichen Erfolg bringt, von meinem eigentlichen Pfad ablenken? Ich überlegte, wie in Anlehnung an Jannis jahreszeitlichen Abschnitte meine berufliche Vielfalt aussehen könnte – und scheiterte kläglich. „So würde ich gar nicht anfangen.“ Schon wieder dieser lustige und gleichzeitig weise Grieche, der mich aus meinen Gedanken holte! „Was genau ist Dein Ziel? Was willst Du von Herzen gerne mit Deiner Arbeit erreichen? Ich will möglichst viele Menschen auf der ganzen Welt kennenlernen und die Möglichkeit haben, überall Geld zu verdienen. Und Du?“
Mit dieser Frage löste Jannis einen Prozess in mir aus, der bis heute, sieben Jahre nach diesem Gespräch, andauert. Ich frage mich seitdem in regelmäßigen Abständen, was genau mein berufliches Ziel ist und für was ich wirklich, wirklich arbeiten möchte. Danach richte ich mein Business genau aus und so ist meine Idee der #workliferomance entstanden. Mein großes Ziel ist es, Menschen und ganzen Organisationen dabei zu helfen, dass sich das Leben (wieder) in die Arbeit verliebt. Und in diesem Kontext nutze ich alle meine Fähigkeiten, die ganze Bandbreite meines „zu viels“: Das Wissen aus der Public Relation, dem Marketing, der Organisationspsychologie und nicht zuletzt meine Expertise als systemische Coach und Trainerin. Damit erreiche ich sicherlich nicht alle möglichen Kund/innen, aber ganz bestimmt genau diejenigen, die Lust darauf haben, von meiner Vielfalt zu profitieren.
Zu viel ist mir nicht viel genug
Zwar decken seit über drei Jahren meine Aufträge als Coach und Trainerin vollständig meine Kosten, trotzdem finde ich es immer noch spannend, Ideen zu Kommunikationskonzepten zu durchdenken und politische Kampagnen fachlich zu begleiten. So bin ich unter anderem zu einer der Mitgründer/innen des „D-Networks“ geworden, die mit einer Vielfalt an Angeboten politische und gesellschaftliche Akteure dabei unterstützen, den sozialen Wandel zu gestalten.
Und ich sorge jedes Jahr dafür, dass mein „zu viel“ noch mehr wird: Meine letzten Ausbildungen haben mich zum Agile Coach und zur Dragon Dreaming Facilitatorin gemacht. Ich kann viel und zwar ganz viel richtig gut.
Was ich im Laufe des Prozesses über berufliche Positionierung gelernt habe:
1. Die wichtigste Frage für mich ist, was ich mit meiner beruflichen Tätigkeit wirklich, wirklich erreichen möchte.
Finanzielle Unabhängigkeit? Die Welt verändern? Oder was ganz anderes? Seit ich mir über meine Ziele im Leben bewusst bin, fällt es mir leichter, meine berufliche Ausrichtung zu konkretisieren und als „Pitch“ nach außen zu tragen. Meistens ergänzen sich meine Fähigkeiten daei sogar – ich habe also auf die Suche nach der alles verbindenden Klammer gemacht.
2. Ich freue mich über meine Vielfalt, denn sie fördert mein Wachstum.
Die Wissenschaft zeigt, dass Systeme, die Vielfalt fördern, robuster und besser für die Zukunft gewappnet sind. Ein Wert, der gerade heute im Kontext der Digitalisierung und Globalisierung besonders an Gewicht gewinnt. Wer seine Vielfalt an Interessen und Talenten individuell in die Arbeit ein, hilft sich selbst und der ganzen Organisation zu wachsen.
3. Ich musste mir Zeit dafür geben und gönne mir regelmäßig Zeit für Reflektionen.
Der Weg zu einer beruflichen Positionierung ist möglicherweise kein Sprint, sondern ein Langlauf. Die Zeiten ändern sich und damit auch die Ausrichtung. Neue Interessensfelder und neues Wissen dürfen auch unsere berufliche Entwicklung beeinflussen. Ich nehme mir Zeit und erlaube mir, meine Positionierung immer wieder zu überdenken und zu korrigieren.
Sandra Kaul ist systemische Coach mit dem Schwerpunkt „Neues Arbeiten“. 2012 gründete sie die Coachingpraxis KIWIBLAU in Berlin und hat sich so sukzessive ein Leben als Selbstständige aufgebaut. Sie begleitet unter dem Motto #workliferomance deutschlandweit Menschen und Organisationen, die sich im Wandel befinden und dazu beitragen wollen, dass sich das Leben (wieder) in die Arbeit verliebt. In Coachings, Workshops und Vorträgen widmet sich Sandra Themen rund um die Zukunft der Arbeit, wie zum Beispiel agiles Arbeiten, Kollaboration, Co-Kreation und remote working.