Vor fast zwei Jahren startete der Unternehmer Lasse Rheingans das Experiment „Fünf-Stunden-Arbeitstag“ in seiner Agentur. Damit begann eine Reise, bei der die Arbeitszeit nur der Anfang war.
1. Bei Euch wird nur fünf Stunden am Tag gearbeitet. Wie kam es dazu?
Die Idee hinter dem Fünf-Stunden-Arbeitstag bei gleichem Urlaubs- und Gehaltsanspruch ist, den geänderten Anforderungen im Beruf und Privatleben Rechnung tragen zu können. Wir sind davon überzeugt, dass nur ein zufriedener Geist in einem gesunden Körper die Höchstleistungen liefern kann, die wir in der modernen Arbeitswelt mit den komplexen Anforderungen benötigen. Der Fünf-Stunden-Arbeitstag rückt die Balance der Mitarbeiter in den Vordergrund, denn sie sind es, die an Innovationen arbeiten und die jeweils beste Lösung für unsere Kunden erarbeiten müssen. Aber viele Statistiken und Studien zeigen: Viele Menschen kommen in den alten Mustern und Strukturen von Arbeit und Privatleben nicht mehr zurecht. Die Frage, die ich mir gestellt habe: Wie kann denn ein optimaler Rahmen aussehen, in dem die Mitarbeiter die individuell besten Lösungen für die Herausforderungen von Kunden erarbeiten können und noch genug Zeit für private Belange haben?
Für uns ist der Fünf-Stunden-Tag ist Teil dieses Rahmens. Ich selbst weiß – mit 20 Jahren Erfahrung im Digitalgeschäft – wie häufig man mit Überstunden zu tun hat und dass man ständig erreichbar sein muss. Bei sozial aktiven Menschen, so wie ich es einer bin, ist es schwer, den Job und Familie, Freunde oder auch Hobbys unter einen Hut zu bekommen. Hinzu kommt: Unsere Arbeit hat sich von repetitiven Tätigkeiten zu herausfordernder Wissensarbeit gewandelt und die Zahlen von psychischen Erkrankungen im Beruf, wie zum Beispiel Burnout, steigen stetig an – für mich ein Indiz dafür, dass die Menschen sich kaputt arbeiten und keine ausgewogene Work-Life-Balance herstellen können. Ich finde, dass die Herausforderungen von heute zu groß sind, um weiterhin zu versuchen, mit alten Rezepten neue Wege zu gehen, und das Leben viel zu wertvoll ist, um es für ein überholtes Konzept von Arbeit zu opfern. Den ersten Schritt habe ich in meiner ehemaligen Agentur gemacht: Ich habe mir zwei Nachmittage in der Woche frei genommen und schnell gemerkt, dass, wenn man sich wirklich fokussiert, man bis zum Mittag meist alle Aufgaben erledigen kann. Dazu kam dann die eigene Recherche mit Studien, Büchern, Gesprächen – bis ich überzeugt war, dass ich es mit meinem neuen Team ebenfalls ausprobieren wollte.
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2. Wie habt ihr das umgesetzt?
Eigentlich hat alles mit meiner Überzeugung und der Frage begonnen, ob alle im Team Lust auf dieses Experiment haben. Denn, und das stellen wir nach fast zwei Jahren immer deutlicher fest, es kommt auf jeden Einzelnen im Team an, ob ein Fünf-Stunden-Tag funktioniert. Unser Anfang war die Diskussion, an welchen Stellen wir Zeit sparen können. Also diskutierten wir über die klassischen Zeitfresser wie E-Mails, Social Media oder auch all die kleinen Schwätzchen und stellten nach und nach Regeln auf, nach denen wir arbeiten wollten. Ich als Chef habe allerdings überhaupt keine klaren Verbote ausgesprochen (wie es manche Zeitung in die Welt gesetzt hat), sondern strebe eher nach Verständnis und bin überzeugt, dass so eine Sensibilisierung wesentlich zielführender ist. Sobald die Kolleginnen und Kollegen von der Sinnhaftigkeit überzeugt sind, geschieht der Wandel doch von fast alleine!
3. Welche Herausforderung kam auf euch zu?
Grundsätzlich ist sicher die größte Herausforderung, die „verlorenen“ drei Stunden Arbeitszeit wettzumachen und dementsprechend eine Produktivitätssteigerung von knapp 40 Prozent zu erreichen. Nach einigen Monaten ist uns darüber hinaus immer deutlicher geworden, dass das soziale Miteinander im Fünf-Stunden-Arbeitstag zu kurz kommt, was wiederum negative Auswirkungen auf die Produktivität hat. Initial war uns auch gar nicht klar, wieviel Arbeit der Change Prozess als solcher macht – ganz abseits vom operativen Durchführen von jeweiligen Arbeitstätigkeiten. Alles in allem also: Wir mussten ständig, oft und gemeinsam lernen und uns sehr viel austauschen – bis heute übrigens. All das zusammen, zusätzlich noch flankiert vom öffentlichen Interesse, hat einen ganz schönen Druck auf das ganze Team ausgelöst, mit dem jeder lernen musste umzugehen. Uns ist in diesem Prozess bewusst geworden, zu welchem Preis der Fünf-Stunden-Tag zu haben ist: Jede Person muss voll und ganz dahinterstehen, und auch bereit für persönliche Entwicklung sein. Denn es erfordert eine große Menge Ehrlichkeit – mit sich selbst und seinen Kollegen – und eine große Portion Selbstorganisation, um das benötigte Maß an Fokus und klarem Miteinander im Job täglich aufrechterhalten zu können. Hier haben wir gerne auch auf externe Berater und Begleiter zurückgegriffen, zum Beispiel auf unseren Supervisor Martin Johnsson und einige andere, mit denen wir teilweise im kleinen Team oder auch mit allen zusammen in Workshops auf den Fünf-Stunden-Tag, individuelle und gemeinsame Erkenntnisse und die Gesamtentwicklung geblickt haben.
4. Wie habt ihr ins Haus hinein erklärt, was ihr vorhabt und wie das geht?
Wir sind alle zusammen ins kalte Wasser gesprungen. Deshalb haben wir auch sehr schnell gemerkt, was wir ändern müssen, damit der Fünf-Stunden-Arbeitstag für alle funktioniert und dass für unsere Kunden keine Abweichungen in der Qualität entstehen. Die ganzen Erkenntnisse haben wir gesammelt und sie gemeinsam diskutiert und nach Lösungen gesucht, wie wir zum Beispiel Prozesse, die Zeitfresser sind, optimieren und automatisieren können, oder wie wir ständiges Feedback einholen können, um die aktuelle Zufriedenheit und Funktionalität des Fünf-Stunden-Arbeitstages feststellen können. Vor etwa einem Jahr haben wir eine Task Force ins Leben gerufen, die sich ständig um Feedback aus dem Team kümmert und Lösungsvorschläge erarbeitet, um Learnings schnell in den Arbeitsalltag integrieren zu können.
5. Was ist denn Euer wichtigstes Learning aus dem Prozess?
Das einfachste und schnellste Learning war, dass man ungeheuer viel Zeit gewinnt, wenn man allein schon die privaten Pop-up-Benachrichtigungen auf dem Smartphone ausstellt und den Small Talk an der Kaffeemaschine sein lässt. Studien zeigen: Jede Ablenkung und jedes Multi-Tasking führt dazu, dass Menschen etwa 15 Minuten benötigen, bis sie den Fokus wieder auf die ursprüngliche Aufgabe zurückgebracht haben und effektiv daran arbeiten können.
Ein weiteres Learning ist – und das liegt bestimmt auch daran, dass wir aus der Digitalbranche kommen: Digitalisierung lässt den Menschen wieder in den Vordergrund rücken! Durch das Automatisieren von sogenannten „Doofmanns-Arbeiten“, die nur Zeit fressen und keine Kopfarbeit benötigen, entsteht ein Raum, in dem Mitarbeiter sich voll und ganz auf ihre Kompetenzen konzentrieren und das Maximum ihrer Kreativität ausschöpfen können. Der Mensch wird wieder wichtiger und wichtiger. Frederic Laloux hat das wunderbar formuliert: Der Mensch ist nicht länger eine „Ressource“, sondern er ist ein Wunder.
6. Wenn ihr einer anderen Organisation einen Rat geben würdet, die sich auch auf den Weg macht: Welcher Ratschlag wäre das?
Aus den Erfahrungen und Learnings der letzten zwei Jahre haben wir mittlerweile einen Blumenstrauß an Methoden abgeleitet, die wir auch für Unternehmen in Workshops und Trainings anbieten. Im Groben geht es immer um drei Bereiche, die im Unternehmen relevant sind: Der einzelne Mitarbeiter und die einzelne Mitarbeiterin, die Teams, in denen Mitarbeiter organisiert sind, und das Unternehmen und die dahinterliegenden Werte selbst. In unseren Augen ist es auch dringend notwendig, dass die Unternehmen sich auf den Weg machen, weil die Arbeit von morgen nicht mehr so wie bisher funktionieren kann und wird, allein schon wegen des hohen Innovationsdrucks, aber auch allein wegen dem immer stärker werdenden Fachkräftemangel. Wo also anfangen? Vielleicht macht es Sinn, sich dem Status quo strategisch zu nähern: Warum existiert das Unternehmen? Welche Vision treibt die Geschäftsführung an? Wie sind Teams organisiert und wie arbeiten die einzelnen Mitarbeiter? Hier gibt es vor allem in Deutschland viel Nachholbedarf, diese Fragen zu reflektieren und zu beantworten. Nicht nur, weil die nachwachsenden Generationen immer mehr Sinn in ihrer Arbeit finden wollen, sondern auch, weil hier Potentiale zu heben sind, die dringend gehoben werden müssen, um in internationalen, komplexen und global zusammenhängenden Märkten nachhaltig erfolgreich bleiben zu können.
Ganz konkret auf den Fünf-Stunden-Arbeitstag bezogen kann die Frage natürlich auch viel banaler beantwortet werden: Einfach mal selbst den Versuch starten, und drei Stunden wegnehmen. Das funktioniert häufig dann wie ein Brennglas und offenbart die größten Mängel und Prozesse, die im Weg stehen. Simpel gesprochen können natürlich erstmal die größten Zeitfresser eliminiert werden. Plötzlich werden aber auch Prozesse an die Oberfläche kommen, die „schon immer so“ waren und einfach nie hinterfragt wurden. Das fördert – wenn die Führung und Kultur es zulässt – einen wunderbar ehrlichen Diskurs darüber. Sollte das Unternehmen also etwas im Arbeitsmodell ändern wollen, ist es im Vorfeld immer sinnvoll, die Meinungen der Mitarbeitenden und deren Wünsche und Ängste abzufragen und zu berücksichtigen, schließlich sind sie es, die unter den neuen Bedingungen arbeiten müssen. Der Schritt zu New Work ist für jedes Unternehmen ganz individuell. Hierbei hilft es, ein Bewusstsein darüber zu schaffen, welche Werte im Unternehmen wirklich gelebt werden, sowohl bei den Mitarbeitern als auch in den Führungspositionen. Wenn hier Einigkeit besteht und dies transparent gemacht wird, fällt es leichter an einem Strang zu ziehen, besser zusammenarbeiten, die Zufriedenheit zu steigern und die bestmöglichen Ergebnisse zu erzielen.
Lasse Rheingans ist Medienwissenschaftler (Master of Science in „Interdisziplinärer Medienwissenschaft“) und arbeitet seit 20 Jahren im Digitalgeschäft. Seitdem hat er verschiedene Agenturen gegründet und geleitet und Dozententätigkeiten ausgeübt. Aktuell ist er Geschäftsführer der Bielefelder Digitalagentur und Unternehmensberatung Rheingans Digital Enabler, in der er im November 2017 den Fünf-Stunden-Arbeitstag bei gleichem Urlaubs- und Gehaltsanspruch eingeführt hat. Er wird gern als Vortragsredner für Themen wie Kulturwandel und Digitalisierung eingeladen und spricht über die damit verbundenen Herausforderungen für die Arbeitswelt.