Anja Schirwinski ist Mitgründerin der Agentur undpaul. Sie haben nicht irgendwann ortsunabhängiges Arbeiten eingerichtet, sondern von Anfang an radikal flexibel gearbeitet. Hier erzählt sie, wie das funktioniert.
Wir sind 2010 eher zufällig in die Gründung einer Agentur gerutscht, nachdem wir in den ersten Gesprächen zwar den Bedarf sahen, aber keinesfalls eine Agentur sein wollten. Nach ein paar Monaten der Gespräche über Geschäftsmodelle haben wir uns dann doch schließlich entschieden, eine GmbH zu gründen. Das Gründungs-Team hatte sich wegen eines geteilten Interesses an dem Open-Source Content-Management-System Drupal kennengelernt, zwei Jahre lang haben wir uns regelmäßig zum Austausch in Hannover getroffen, einige reisten dafür sogar aus Orten in der Nähe von Bremen, Wolfsburg oder Braunschweig an.
Wir begannen an kleinen Projekten frei zusammenzuarbeiten, bevor wir eines Tages feststellten, dass der Bedarf einer gemeinsamen Gruppierung besteht. Während der Gründungsphase trafen wir uns gelegentlich in Hannover, denn damals waren die Möglichkeiten der Videokonferenzen mit mehreren Personen kaum vorhanden. Die Zusammenarbeit an Projekten erfolgte aber von Anfang an nur digital, das heißt über Chaträume und Online-Ticketsysteme. Andere ähnliche Agenturen bearbeiteten zu der Zeit in ihren Büros die Aufgaben mit Post-its an Kanban-Boards, was den großen Nachteil hat, dass Aufgaben nicht stets aktuell online verfügbar sind und deren Verlauf später nicht mehr nachvollziehbar ist. Für uns war diese Art der Zusammenarbeit undenkbar, da wir gerne Hürden und Fortschritte schriftlich dokumentieren. Man kann deshalb später immer wiederfinden, was wer warum gemacht hat.
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Remote-Arbeit als Standard
Unsere flexible Arbeit nennen wir Remote-Arbeit oder ortsunabhängiges Arbeiten. Unsere Team-Mitglieder sind fest angestellt – manche in Vollzeit, manche in Teilzeit – aber sie alle suchen sich ihren Arbeitsplatz selbst aus. Das kann in gemieteten Büros oder Coworking Spaces sein, im Café oder zu Hause. Selbst Arbeiten im Ausland ist möglich, so arbeitete ein Mitarbeiter ein halbes Jahr aus einem Coworking Space in Kapstadt, wegen der meist gleichen Uhrzeit ein perfekter Ort für Workations.
„In meiner Zeit in Südafrika konnte ich Erfahrungen machen, die mir in meiner Schulzeit verwehrt blieben. Ich konnte wertvolle Fremdsprachenkenntnisse erlangen und meinen kulturellen Horizont erweitern. Das Remote-Arbeiten hat dabei in der Zeit eine besondere Stellung eingenommen, weil es sowohl Routine als auch Ruhe in meinen Alltag in einem fremden Land gebracht hat.“ – Luca Stockmann
Möglich macht das unsere Infrastruktur, die von Remote-Arbeit als Standard ausgeht. Wichtigste Tools sind ein Ticket-Tool und das Chat-Tool Slack. Wir haben viele Channels (Chaträume), sowohl projektbezogene, als auch welche, die mit Arbeit nichts zu tun haben. Es gibt zum Beispiel auch einen Musik-Channel oder einen Baby-Channel. Slack erlaubt uns, dass alle Mitarbeitenden von allem so viel wie möglich und nicht mehr als nötig mitkriegen. Das Gespräch, das sonst an der Kaffeemaschine stattfindet, ist bei uns in Slack zu finden. Unbedingt zu empfehlen ist auch Giphy – die Suchmaschine erleichtert das Auffinden von Gifs zu allen möglichen Situationen, die die Arbeit auflockern und uns zwischendurch mal zum Lachen bringen oder helfen, ohne lange Worte Ärger auszudrücken.
Als Ticket-Tools nutzen wir Jira und Redmine. Wir nutzen Gitlab für Code, Nextcloud als Dateiablage, Toggl für die Zeiterfassung, 1Password als Teamlösung für Passwörter, meet.jit.si für Videokonferenzen, Google Apps für E-Mail und kollaboratives Arbeiten – wir ersetzen unser Büro also durch allerlei Tools und Applikationen.
Ortsunabhängiges Arbeiten erfordert viel Umdenken
Wenn ein Unternehmen nicht von Anfang an so arbeitet, ist ein kompletter Kulturwandel nötig. Die Herausforderung: Remote-Arbeitende können sich unsichtbar fühlen, wenn der Großteil des Teams an einem Ort sitzt und sich viel direkt austauscht. Außerdem müssen alle relevanten Informationen schriftlich und für alle zugänglich dokumentiert werden. Führungskräfte müssen sich teilweise häufiger mit Remote-Arbeitenden austauschen, um herauszufinden, wie es um die Menschen steht, wo sie Probleme haben und Unterstützung brauchen.
Zwischenmenschliche Kommunikation ist für mich das Hauptthema in einem Unternehmen. Und Kommunikation wird in einer ortsunabhängigen Teamaufstellung eine Herausforderung sein. Wir mussten auch erst herausfinden, wie wir das Konfliktpotential verringern – zum Beispiel, indem wir schneller zur Videokonferenz greifen, als minutenlang verärgert in einen Chatraum zu tippen.
Pendeln mit Leben ersetzen
Der Weg zur Arbeitsstelle in Deutschland dauert im Schnitt 44 Minuten. Wer einen solchen Arbeitsweg hat, kennt die Nachteile davon für das eigene Wohlbefinden. Wer häufige nicht-selbstverschuldete Verspätungen erlebt, weiß, wie viele Nerven das kostet. Doch Arbeitsausfälle wegen Streiks, Stau oder Unwetter gehören der Vergangenheit an, wenn der Arbeitsplatz frei wählbar ist.
Auch das Anwerben von Fachpersonal wird leichter, wenn die angebotene Stelle ortsunabhängig ist: Manche Unternehmen haben ihren Sitz in Ballungszentren, in denen die Wohnungsmieten kaum bezahlbar sind und alle Fachkräfte schon bei der vielfältig vertretenen Konkurrenz arbeiten. Andere Unternehmen sitzen auf dem Land und sind dadurch unattraktiv für das benötigte Personal.
Wir denken: Angestellte genießen selbstbestimmtes Arbeiten und die damit verbundene Freiheit und Unabhängigkeit. Warum nicht mal 10:00 Uhr im leeren Supermarkt einkaufen und dabei über eine anstehende Aufgabe nachdenken, als sich um 18:00 Uhr mit allen anderen in die lange Schlange stellen? Warum nicht tagsüber mal Sport treiben, solange man noch Sonne tanken kann? Warum nicht mal im Sommer früher anfangen, um am Nachmittag baden zu gehen? In vielen Fällen kann all das möglich gemacht werden, wenn wir uns von alten Denkmustern und Anwesenheitspflicht befreien.
Anja Schirwinski ist Geschäftsführerin von undpaul. Die Agentur fokussiert sich auf Content-Management-Lösungen im Publishingbereich mit Drupal.